Tutzing, der Ort, an dem 1963 mit dem Schlagwort "Wandel durch Annäherung" der Strategiewechsel in der westdeutschen Deutschlandpolitik während des Kalten Krieges angekündigt wurde, der Ort, an dem Pro-Asyl gegründet und die Mütterrente eingeführt wurde, war nun drei Tage lang Schauplatz des 57. Tutzing-Symposions mit dem Titel "100% digital: Überlebensstrategien für die Prozessindustrie". Etwa 100 hochkarätige Experten und Entscheider aus der Chemie- und Prozessindustrie sind im April 2018 für drei Tage in Tutzing zusammengekommen, um die Digitalisierung in der Prozessindustrie voranzubringen. Organisiert wurde die Veranstaltung vom DECHEMA e.V. und der ProcessNet-Fachgemeinschaft Prozess-, Apparate-, und Anlagentechnik PAAT unter Federführung der Vorsitzenden Prof. Dr.-Ing. Norbert Kockmann, TU Dortmund, und Dr. Hans-Rolf Lausch, Evonik. ProcessNet ist die gemeinsame Initiative von DECHEMA und VDI.
Die wegweisende Veranstaltung bestand aus zahlreichen Impulsvorträgen von Experten und Entscheidern der Prozessindustrie sowie Kreativ-Workshops an zwei Nachmittagen. Der Sonntag Abend startete mit Vorträgen aus der Energiebranche und dem Silicon Valley. Hochrangige Redner stellten ihre Erfahrungen aus dem Anlagenbau, Logistik, chemischen Industrie, Fertigungs- und Pharmaindustrie vor und führten die Teilnehmer aus der chemischen Industrie in die folgenden Themenfelder ein:
1: HORIZONTAL: vom Rohmaterial bis zum Kunden, Supply Chain und neue Geschäftsmodelle
2: VERTIKAL: Prozessentwicklung, Planung, Produktionskonzept und Genehmigung
3: Intelligente Apparate und Anlagen, Sensoren und Automatisierung
4: Datenkonzepte, Datenanalyse, Big Data und künstliche Intelligenz
Die Impulsvorträge wurden intensiv diskutiert und nachmittags in Workshops an Flipchart und Pinnwand zu konkreten Lösungskonzepten ausgearbeitet. Am ersten Tag wurden unterschiedliche Personas für diese vier divergenten Workshops definiert, damit sich die Teilnehmer mit der Thematik und möglichen Kundenwünschen vertraut machen konnten. So ging es z.B. um Manfred, den sicherheitsbewusste Betriebsingenieur oder um die innovative Marion, promovierte Physikerin und verantwortliche Entwicklerin bei einem Zulieferer für Apparatetechnik. Auf Basis der Bedürfnisse und Wünsche dieser Personas wurden Prototypen zu critical und funky functions möglicher Produkte erarbeitet. Am zweiten Tag wurden diese functions dann in konvergenten Workshops konkretisiert. Zudem wurden in drei weiteren Workshops Themen zur Arbeitswelt 4.0, zur Ausbildung und die Visualisierung der Ergebnisse behandelt.
In Tutzing 2018 wurden somit nicht nur die technischen Lösungen der Zukunft diskutiert, sondern alle Teilnehmer waren sich auch der gesellschaftspolitischen Verantwortung bewusst. Dies machte insbesondere Frau Prof. Annette Kluge, Ruhr Uni Bochum, mit Ihrem Abendvortrag "Human Ressourcen in einer digitalen Welt" deutlich. Spannend und visionär zeigte sie, welche Individuellen Möglichkeiten zu Arbeitsgestaltung durch Digitalisierung möglich sein werden und welche Verantwortung daraus erwächst. Die hochkarätigen Anwesenden haben nicht nur die Verantwortung für die Sicherheit und Produktivität der Chemie-Anlagen, sondern auch für die Mitarbeiter und unsere Jugend. Durch die Digitalisierung verändern sich Berufsbilder oder verschwinden vollständig - und damit auch Arbeitsplätze. Es ist daher eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die Qualifizierung der Arbeitnehmer zu fördern und eine bedarfsgerechte Bildungsinfrastruktur zu entwickeln. Unis und Hochschulen sollen dabei zukünftig eine noch wichtigere Rolle spielen: als Think Tanks der Zukunft entwickeln sie die Grundlagen für neue Technologien mit und erfüllen die Fortbildungsbedarfe der Industrie.
Die Ergebnisse der Workshops und intensiven Diskussionen wurden in 36 Tutzing-Thesen zusammengefasst und werden als Grundlage für die weitere Entwicklung der Digitalisierung in der Prozessindustrie dienen. Tutzing, der Ort, an dem im Mai 2018 das 57. Tutzing Symposion zum Thema Digitalisierung in der Prozessindustrie stattfand. Wir sind gespannt, welche historische Bedeutung diese Veranstaltung und die 36 Tutzing Thesen zukünftig erhalten werden.
1. Workshop 1: Horizontal, Supply chain vom Rohstoff bis zum Kunden
1.1. Die horizontale Integration der Wertschöpfungskette (auch firmenintern) birgt enorme Potentiale für alle Beteiligten
1.2. Es gibt einen Bedarf an digitalen Plattformlösungen incl. Planungstools für mittelständische Unternehmen ohne 1:1 Datenintegration zwischen Lieferant-Hersteller-Kunde
1.3. Herausforderungen der horizontalen Integration bestehen eher bei Vertrauen und Zusammenarbeit als bei der technischen Umsetzung
1.4. die horizontale und vertikale Vernetzung müssen stärker verbunden und integriert werden
2. Workshop 2: Vertikal, R&D, Planung, Produktion
2.1. Der Digital Twin ist das Fundament der Digitalisierung in der Prozessindustrie
2.2. Das volle Potential der Digitalisierung kann in der Prozessindustrie erst durch Künstliche Intelligenz gehoben werden
2.3. Digitalisierung ermöglicht ein Mehr an Innovation (neuartige Produkte, Prozesse, Wertschöpfungsketten)
2.4. Digitalisierung ist nicht im Alleingang möglich, sie muss gemeinsam gestaltet werden
2.5. Digitalisierung im Asset Life Cycle (ALC) macht nur Sinn, wenn der Digital Twin gefüllt und immer aktuell ist (Akzeptanz)
2.6. Digital Twin zwingt zur Zusammenarbeit
- Entwicklung ist nur gemeinsam möglich
- Wenn der Digital twin existiert, wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit intensiviert
2.7. Der Digital Twin wird Time to Market deutlich reduzieren, die Flexibilität erhöhen und Kosten senken
2.8. der Digital Twin schafft Zeit und Potential für mehr Kreativität, kann aber durch Bedrohung von Tätigkeiten und Arbeitsplätzen kritisch gesehen werden
- Digital Twin vermeidet Doppelarbeit/ reduziert Fehler
2.9. Digitalisierung / Digital Twin fördert Zusammenarbeiten:
- Im Unternehmen / Unternehmensübergreifend / zu Lieferanten
2.10. Der Verlust des Digital Twins ist der Gau
- Know how Verlust / Spannungsfeld Zugriffsrechte und Kooperation
2.11. Der Ingenieur steht in Symbiose mit Künstlicher Intelligenz KI, allerdings darf die KI nicht über den Menschen entscheiden
2.12. Der Grad der Autonomie (der KI) wird von der Bereitschaft der Gesellschaft bestimmt
2.13. KI unterstützt Interdiziplinarität, die früher im ALC eine Rolle spielen wird
3. Workshop 3: Intelligente Apparate: Das 100% Modul
3.1. ist der Building Block für ein Smart Manufacturing-Eco-System
3.2. erschließt weitere Potenziale bei Verfügbarkeit, Produktivität und Flexibilität
3.3. erfordert Co-Kreation über Unternehmens- & Disziplingrenzen hinweg
3.4. stellt neue juristische, technische und organisatorische Fragen
3.5. verändert Ausbildung an Hochschulen von selektiver Funktions- zu ganzheitlicher Prozess-Sicht
4. Workshop 4: Datenkonzepte und autonome Anlage
4.1. durch konsequente Nutzung von Datenkonzepten, Datenanalyse, Big Data und KI ergibt sich ein entscheidender Wettbewerbsvorteil in der Prozessindustrie
4.2. Gemeinsame Wettbewerbsfähigkeit der Prozessindustrie und ihrer Zulieferer durch Nutzung von Bausteinen der Digitalisierung (Big Data und KI) ausbauen
4.3. Schulterschluss von Anwendern und Lieferanten zur intelligenten Nutzung von Daten zum Meistern der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen
4.4. Fairer Umgang beim Austausch von Daten und Erfahrungen zwischen Prozessindustrie und ihren Zulieferern durch offene, standardisierte, herstellerunabhängige Schnittstellen
5. Workshop 5: Arbeitswelt 4.0
5.1. Die Digitalisierung ist der Change Prozess der Arbeitswelt der 20iger Jahre
5.2. Die Digitalisierung wird die Organisation der Arbeit verändern hin zu einer Gesamtbetrachtungsweise.
5.3. Anzahl der Arbeitsplätze in der Produktion wird sinken während die der Stakeholder steigen werden.
5.4. Der Anspruch an die Qualifikation der Mitarbeiter ändert sich zu größeren Extremen (niedrig/hoch)
5.5. Digitalisierung erfordert eine verstärkte Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit und die Bedeutung der Kommunikation über verschiedene Kanäle wird zunehmen
5.6. Die Zuordnung der Verantwortung und der sichere Betrieb von Anlagen ist zu gewährleisten
6. Workshop 6: Aus- und Fortbildung
6.1. ein fundiertes Grundlagenwissen ist auch in Zeiten der Digitalisierung unabdingbare Voraussetzung und muss zeitgemäß vermittelt werden
6.2. die Digitalisierung erfordert eine häufigere Überprüfung und angemessene Überarbeitung der Curricula
6.3. Wir sehen eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zur Qualifizierung von Arbeitnehmern und zur Schaffung einer bedarfsgerechteren Bildungsinfrastruktur
6.4. Die Bedeutung von lebenslangem Lernen nimmt durch Digitalisierung zu. Universitäten & Hochschulen sollten als Think Tanks der Zukunft Fortbildungs-Angebote für Wirtschaft und Verwaltung entwickeln
7. Workshop 7: Visualisierung und Kommunikation der Ergebnisse